Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot – von wem eigentlich? – ausging, dass alle Gottesdienstbesucher und Kirchenmitglieder gezählt und geschätzt würden.
Kaiser Augustus - Meister der ZahlenDiese Schätzung war freilich nicht die allererste und begibt sich in alljährlichem Ritual in den Medien. Zielsicher kommt sie stets zu dem unbestechlichen Ergebnis: „In die Kirche geht eine kleine Minderheit“ und „Die Kirchenmitglieder werden weniger“.
Nun denn, das trifft zu.
Es trifft so zu, wie Zahlen eben zutreffen: Sie zählen, summieren, bilanzieren, prognostizieren.
Kaiser Augustus, Kaiser Roms in den Tagen der Geburt Jesu, des Gotteskindes, war ein Meister der Zahlen.
Er trieb die halbe Welt in eine Volkzählung zwecks einer einnahmeverheißenden Steuerschätzung. „Es begab sich aber zu der Zeit, als ein Gebot des Kaisers Augustus ausging, das alle Welt sich schätzen ließe.
Große Zahlen - große MachtUnd diese Schätzung war die allererste…“ (Lukasevangelium Kapitel 2). Große Zahlen – große Macht. In der Welt der Zahlen ist man schnell ein Verlierer, wenn die Summe unter’m Strich schwindet oder zu klein ist.
Gottesdienste an mehr Orten als geahntSei es die Summe im Geldbeutel oder die Bevölkerungszahl wie im damals schon kleinen Israel gegenüber dem Weltreich Rom.
Die Welt der Zahlen hat ihre eigenen Schlussfolgerungen. „Die Kirchenbänke bleiben leer“, so Andreas Boller in der WZ vom 5. Dezember.
Leere Kirchenbänke?In der Fortschreibung sinkender Kirchenmitgliedszahlen sieht der Journalist- außer am Heiligen Abend - schon weitgehend leere Kirchenbänke, während Christinnen und Christen unverfrorener Weise an mehr Orten als geahnt noch fröhlich Gottesdienst feiern.
Anti-Evangelium der ZahlenAber selbst sehr Tapfere und Visionäre kommen kaum an gegen die Macht der Zahlen und Prognosen. Die bilden bald eine Art „Anti-Evangelium“ – nicht frohe Botschaft, wie die Bedeutung von Evangelium ist, sondern der Zeiger steht eher auf Resignation und Depression.
Wie erfrischend, frech, widerständig und befreiend setzt sich die Weihnachtsgeschichte in der Bibel über die Macht der Zahlen und Prognosen hinweg.
Von der Geburt eines kleinen KindesWährend der römische Kaiser die Macht der Fakten sprechen lässt, beginnt Gott abseits aller Macht seine eigene Geschichte in einem kleinen Stall an einem kleinen Ort in der Geburt eines kleinen Kindes.
Seine Engel rütteln ein kleines Trüppchen Hirten aus ihrer Nachtwache auf, und Gottes Stern bewegt eine Handvoll weiser Magier aus dem Morgenland an eine als Wiegenersatz genutzte Futterkrippe.
Diese Wenigen, von dem neugeborenen Gotteskind im Innern ergriffen, bekommen Beine und erzählen davon aller Welt auf den Gassen und in den Straßen – und hätte es ein Internet gegeben, dann hätten sie’s auch da getan.
Leidenschaft neu entfachenMeine Kirche soll die Zahlen sehr wohl nüchtern sehen, und tut es auch. Aber viel mehr noch soll sie allen Fokus auf die Macht dieser widerständigen Liebe Gottes richten, die alle Zahlen gegen den Strich bürstet.
Sie soll und darf sich Beine machen lassen wie die Hirten. Sie darf den Funken der Leidenschaft neu entfachen lassen.
Das ist Gott zuzutrauen, ungebrochen, heute wie damals.
Und wer mal wegguckt von all den Zählungen und Prognosen, der sieht – ja glaubt man’s denn – so manchen lebendigen und gut besuchten Gottesdienst.
Fröhlicher LobgesangDa sind die Bänke nicht leer und manchmal werden sogar die Stühle beiseite gerückt für das Leben im Haus. Da hört man fröhlichen Lobgesang statt depressivem Abgesang. Da findet man Leute, die sich in der Tat von Gott Beine machen lassen und mutige Münder und tatkräftige Hände und erfüllte Herzen.
Frohe Botschaft„Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren sind Schlüssel aller Kreaturen“, so dichtete der Romantiker Novalis, „dann… fliegt vor einem geheimen Wort das ganze verkehrte Wesen fort.“
Für Christinnen und Christen ist das entscheidende Wort nicht geheim. Es heißt:
„Fürchtet euch nicht… Denn euch ist heute der Heiland geboren!“ (Lukas 2)
Das ist das Evangelium.
Frohe Botschaft.
Statt ständig die Beine in unseren Kirchen zu zählen, sollten wir uns davon fröhlich Beine machen lassen!
Ilka Federschmidt, Superintendentin im Ev. Kirchenkreis Wuppertal
Foto: Tim Polick
Kolumne in der Westdeutschen Zeitung vom 13.12.2019