Obdachlosigkeit | Interview „Jeder Mensch verdient eine Antwort"

„Hast du mal einen Euro für mich?“ Seit die Wohnungslosigkeit deutlich zugenommen hat, wird diese Frage in Wuppertal häufiger gestellt. Wie damit umgehen? Streetworkerin Lena Söhnchen hat Antworten.

Die Meinungen gehen darüber auseinander, ob wir bettelnden Menschen Geld geben sollen. Was raten Sie?

Lena Söhnchen: Wir sollten das geben, womit wir uns wohl fühlen. Das kann etwas Geld sein. Wir können aber auch eine Kleinigkeit zu essen oder zu trinken ausgeben. Wichtig finde ich nur, dass wir den Menschen, der uns um Hilfe bittet, nicht einfach ohne eine Antwort stehen lassen oder ihn ganz ignorieren. Eine Reaktion – und wenn es die freundliche Antwort ist, dass wir gerade nichts geben können oder möchten – hat die Person verdient. Da steht schließlich ein Mensch mit einer oftmals langen Leidensgeschichte vor uns, dem wir seine Würde nehmen, wenn wir ihn komplett ignorieren oder abfällig behandeln.

Manche fühlen sich wohler, wenn sie einen Kaffee oder ein Brötchen spendieren, weil sie davon ausgehen, dass Geld sofort in Alkohol umgesetzt wird. Aber ist das nicht auch bevormundend?

Lena Söhnchen: Ich habe neulich mit einem obdachlosen Menschen, den ich als Streetworkerin der Diakonie betreue, vor einem Supermarkt auf den Notarzt gewartet. In dieser Zeit kamen vier Leute vorbei, die ihm Brötchen mit Salami, Kekse und Getränke in die Hand gedrückt haben. Das mag fürsorglich gemeint sein, aber niemand hatte gefragt, ob er das überhaupt möchte und wenn ja, was er denn gerne essen oder trinken würde. 

Wenn wir etwas kaufen statt Geld schenken wollen, dann sollten wir vorher fragen und uns auch etwas Zeit nehmen für den Menschen.

Da wurde komplett über seinen Kopf hinweg agiert. Das ist eine Bevormundung, die sich für die betroffenen Menschen schlecht anfühlt, weil sie ihnen jegliche Selbstbestimmung nimmt. Wenn wir etwas kaufen statt Geld schenken wollen, dann sollten wir vorher fragen und uns auch etwas Zeit nehmen für den Menschen, dem wir etwas Gutes tun wollen.

Helfe ich den Menschen denn nicht mehr, wenn ich ihnen sage, wo sie Hilfe bekommen? In Deutschland gibt es schließlich ein Recht auf staatliche Unterstützung und darauf, ein Obdach über dem Kopf zu haben. 

Lena Söhnchen: Das ist richtig. Jede Kommune ist verpflichtet, Notunterkünfte für wohnungslose Menschen vorzuhalten, damit sie nicht auf der Straße schlafen müssen. Außerdem gibt es zentrale Beratungsstellen, in denen ihnen dabei geholfen wird, staatliche Leistungen zu beantragen. In Wuppertal macht die Diakonie das im Auftrag der Stadt. In der Ludwigstraße gibt es die zentrale Beratungsstelle für wohnungslose Männer und für wohnungslose Frauen in der Deweerthstraße. Allerdings kennen die meisten obdachlosen Menschen diese Adressen auch nicht. Es schadet sicherlich nicht, sie noch einmal darauf aufmerksam zu machen, aber auch das sollte nicht bevormundend oder vorwurfsvoll geschehen. 

Obwohl es Notunterkünfte gibt, schlafen auch im Herbst und Winter Menschen draußen. Ist das nicht gefährlich?

Lena Söhnchen: Letztlich ist jeder gefährdet, der draußen schläft, und zwar unabhängig von der Jahreszeit. Bei niedrigen Temperaturen droht die Gefahr zu erfrieren, zumal die Schafsäcke obdachloser Menschen oft von schlechter Qualität sind und nicht richtig warmhalten. Im Sommer droht aufgrund hoher Temperaturen die Dehydration. Außerdem hat Gewalt gegen und unter Obdachlosen zugenommen. 

Jede und jeder kann mithelfen, Menschenleben zu retten.

Zu unserem Diakonie-Team der Streetworker gehören zehn Mitarbeitende. Wir sind im ganzen Stadtgebiet unterwegs und schauen, wie es den Menschen geht, die auf der Straße leben, und versuchen sie zu unterstützen, damit sie den Winter überstehen. Doch jede und jeder kann mithelfen, Menschenleben zu retten. Wer jemanden in der Kälte liegen sieht, sollte die Kältehotline der Stadt Wuppertal unter der Telefonnummer (0202) 563 4020 informieren.

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Gespräch und Foto
Sabine Damaschke